Matthias Jung


 

FeedWind

Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

November.
Predigt am Totensonntag 1996
über Markus 4,35-41

 

November.
Milchig trüb scheint die Sonne durch die Bäume.
Über der Wiese liegt ein zarter Dunstschleier.
Die letzten gelben Blätter leuchten im fahlen Licht.
Ich rieche den feuchten Geruch des Herbstes.
Die Abendkälte kriecht die Beine hoch.
Vor mir der Stein.
In schwarzen Lettern lese ich den Namen meiner Frau.
Gestorben im Februar diesen Jahres.
Im Alter von 62 Jahren.
An Krebs.
Als die Beschwerden kamen, war es schon zu spät.
Es war kurz vor Weihnachten.
Dann ging alles sehr schnell.
Viel zu schnell.

-

Die erste Zeit danach ist grauenvoll.
Aus jeder Ecke in der Wohnung schaut sie mich an.
Überall Erinnerungen.
Schließlich räume ich alles weg.
Kann keinem ich in die Augen schauen.
Sofort kommen die Tränen.
Ich schotte mich ab.
Es wird Frühling, dann Sommer.
Mehr Ablenkung.
Die langen hellen Tage.
Der blühende Garten.
Das Fahrrad.
Die Enkelkinder.

-

Der Himmel färbt sich orange.
Überall auf dem Friedhof leuchten rote Lichter auf.
Der Kies knirscht unter meinen Füßen.
Ich gehe durch die leeren Straßen nach Hause.
Überall Licht in den Fenstern.
Überall Menschen. 
Wärme.
Nur in meiner Wohnung ist es dunkel.
Ich schließe auf und gehe hinein.
Mache den Fernseher an.
Die Sportschau läuft.
Ganz schnell kommt jetzt die Nacht.
Und mit ihr die Verzweiflung.

-

Zunächst  nur ein kleiner Hauch.
Ich kann ihn  zur Seite schieben.
Doch der Schmerz nimmt zu.
Von Minute zu Minute.
Ich hole ein Bier aus der Küche.
Stelle mich eine Weile ans Fenster und schaue hinaus.
Dann greife ich wieder zur Fernbedienung.
Schalte hierhin, schalte dorthin.
Doch es hilft nicht mehr.
Die erste Träne läuft.
Hastig wische ich sie weg.
Nehme einen großen Schluck.
Was über die Mattscheibe flimmert,
erkenne ich nicht mehr.
Ein anderer Film läuft in mir ab.

-

Locarno im Mai vor zwei Jahren.
Blühende Bäume.
Der blaue See.
Die warme Brise.
Die Piazza am Abend.
Wir sitzen dort in der Abenddämmerung.
Und schauen den flanierenden Menschen zu.

-

Szenenwechsel.
Das Krankenhaus in Dinslaken.
Sie im Bett.
Völlig abgemagert.
Leerer Blick.
Ich stehe mit meinem Kloß im Hals da.
Ihre Augen fragen: Warum?
Und ich weiß keine Antwort.

-

Wieder Wechsel.
Unsere Hochzeit.
Vor 37 Jahren.
Die Kirche in Götterswickerhamm.
Pfarrer Petri.
Sie und ich vor dem Altar.
Ich sehe wieder die goldenen Ringe
auf dem goldenen Teller.
Sie funkeln in den Sonnenstrahlen.
Ich hätte die Welt umarmen können.

-

Schnitt.
Die Beerdigung.
Ein einziger Schmerz.
Eine riesige Wunde.
Die Trauerfeier.
Der Gang zum Grab.
Der Sarg verschwindet im Loch.
Mir wird das Herz bei lebendigem Leib herausgerissen.
Ich bin allein.

-

Wieder eine andere Szene.
Die Geburt unserer Tochter.
Ich laufe nervös vor dem Kreissaal auf und ab.
Ich zähle die blaßblauen Platten
vom einen Ende des Flurs zum anderen.
Stundenlang.
Bis zur erlösenden Nachricht: ein Mädchen!

-

Dann mein Autounfall.
Sie steht an meinem Bett,
als ich nach der Operation aufwache.
Tränenüberströmtes Gesicht, aber überglücklich.
Ich lebe noch!

-

Weihnachten 1995.
Unsere Kinder.
Die Enkel.
Sie macht auf Fröhlichkeit.
Doch hinter der Maske sitzt der Schmerz.
Ich halte es nicht aus.
Schließe mich im Bad ein.
Und weine.
Unser letztes gemeinsames Weihnachtsfest.

-

Die Bilder fliegen wie Fetzen an mir vorbei.
Ich kann sie nicht steuern.
Sie kommen und gehen.
Und mit jeder Erinnerung pocht die Verzweiflung stärker.

-

Ich spüre den Drang zur Flasche.
Für kurze Zeit könnte ich vergessen.
Der Sturm der Gefühle würde abflauen.
Und Wärme sich in meinem Bauch ausbreiten.
Aber danach
käme der Jammer nur um so stärker zurück.
Nein.
Das lohnt sich nicht.

-

Doch dafür rüttelt mich der Schmerz um so mehr.
Aber es sind nicht nur die Erinnerungsfetzen.
Auch Fragen dröhnen in meinen Ohren.
Warum?
Warum sie?
Warum so?
Warum so früh?
Was soll das alles?
Macht mein Leben so noch Sinn?
Das soll alles gewesen sein?!

-

Ich schimpfe.
Fluche.
Klage.
Jammere.
Habe Angst.
Vor meinen Gefühlen.
Vor der Zukunft.
Wie riesige Fratzen
sehe ich all die Bilder und Fragen über mir.
Sie lachen mich aus.
Verspotten mich.
Wühlen in meinen Wunden.
Bohren in meinem Hirn.
Schleudern mich hierhin und dorthin.
Zerren an meinen Nerven.

-

Eine Stimme dringt zu mir durch.
Die Stimme einer Frau.
Sie ist sanft und eindringlich zugleich.
...ich sehe einen Menschen.
Seine Augen sind weit aufgerissen.
Er schreit vor Angst.
Und wird hin und hergeworfen.
Er sitzt in einem Boot.
Das Boot ist in einen Sturm geraten.
Da sind auch noch andere Menschen.
Aber für die hat er keine Augen mehr.
Er sieht nur das tobende Meer um sich herum...
Mit Mühe hält er sich im Boot.

-

Ich schüttele den Kopf.
Was soll das?
Wer spricht dort?
Das Bild vom Mensch in dem Sturm
ist wie ein Schlag ins Gesicht.
Es beschreibt mich.
Mich, mit meinen Gefühlen.
Mit meiner Angst.
Mit meiner Trauer.
Der innere Film beginnt wieder zu laufen.
Die Erinnerungen holen mich wieder ein.

-

Der Tag im Dezember.
Wir saßen beim Doktor im Zimmer
und hörten die Todesnachricht.
Noch ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr.
Keine weitere Hoffnung.
Keine Therapie möglich.
Nur Schmerzlinderung.
Ich sehe sie an.
Ihr Gesicht ist versteinert.
Ich frage noch: Was?
Und da sprang mich die Verzweiflung an.
Packte mich am Nacken und schnürte mir die Luft ab.
Das kann doch nicht wahr sein.
Ich träume doch.
Sitze im Kino.
Doch nicht meine Frau...!

-

Da dringt die Stimme von eben wieder zu mir durch.
...die tosenden Wellen schlagen ins Boot.
Der Sturm tobt immer stärker.
Und die Männer halten die Angst kaum noch aus.
Höher und höher wogt das Meer.
Größer und größer wird die Verzweiflung.
Ihr Leben wird durcheinandergewirbelt
und zerschlagen.
Von einer Seite zur anderen rollen sie in dem Boot.
Der pfeifende Wind schreit in ihre Ohren.
Verzweiflung ergreift sie.
Angst haben sie um ihr Leben.
Angst vor dem Tod.
Das soll alles gewesen sein?
Was für ein Leben und was für ein Ende!
Und was tut Gott?
Was tut Jesus?
Er liegt hinten im Boot und schläft.
Alles geht drunter und drüber und der schläft.
Sie gehen hin und wecken ihn und sagen, nein,
schreien ihn an:
Mensch, kümmerst du dich nicht darum,
daß wir hier vor die Hunde gehen?!
Und Jesus steht auf.
Sieht den Sturm.
Und die Jünger.
Befiehlt dem Sturm:
Schweig und verstumme.
Und da legt sich der Sturm der Gefühle.
Die Angst flaut ab.
Und die Verzweiflung kommt zur Ruhe.
Zurück bleibt das glatte Meer.
Und die Jünger schauen sich verwirrt an...

-

Das Wort zum Sonntag!
Sonst ging ich um diese Zeit immer auf´s Klo.
Aber heute hatte es mich eiskalt erwischt.
Ich starre auf den Bildschirm.
Ich sehe die Frau.
Gar nicht mal so alt.
Angenehme Erscheinung.
Sie fährt fort - und ich hänge an ihren Lippen:

-

...so geht es vielen Menschen.
Wir haben Angst.
Vor dem heute.
Vor dem morgen.
Wir sind verzweifelt.
Wir sind abgrundtief traurig.
Gerade in diesen düsteren Tagen des November.
Morgen ist Totensonntag.
Auch Ewigkeitssonntag genannt.
Da werden viele von Ihnen wieder
auf den Friedhof zu den Gräbern gehen.
Und sie werden das erleben,
was den Jüngern auf dem See widerfuhr.
Gefühle werden hochkommen.
Sie überschwemmen.
Sie wegzuschwemmen drohen.
Traurigkeit.
Verzweiflung.
Wehmut.
Angst.
Und dann gelten die Worte Jesu ihnen:
Fürchtet euch nicht!
Schaut euren Gefühlen ins Gesicht.
Nennt sie beim Namen.
Habt Vertrauen zu Gott.
Er kann die Stürme eurer Seele beruhigen.
Sprecht oder schreit sie laut heraus.
Dann werdet ihr nicht in eurer Trauer untergehen.
So schlimm es auch sein mag.
Denn Trauer kann überwunden werden.
Gott ist an eurer Seite.
Gebt nicht auf, sondern steht auf und seht nach vorn...

-

Ich stehe auf.
Schalte den Fernseher aus.
Trete ans Fenster.
Öffne es.
Dichter Nebel ist aufgezogen.
Ich lausche der Stille.
Ich sauge die kalte Luft ein.
Sie tut gut.
Mein Wohnzimmer ist mir plötzlich zu eng geworden.
In meiner Seele geht es drüber und drunter.
Von Kirche und Gott hatte ich wenig gehalten.
Und nach dem Tod meiner Frau noch weniger.
Alles Quatsch.
Weihnachten und bei Beerdigungen war ich mitgegangen.
Aber nie richtig zugehört.
Mehr auf die Uhr geschaut.
Doch eben
- da war eine Tür in mir aufgegangen.
Diese Geschichte
und die leise eindringliche Stimme der Pastorin
haben irgend etwas in mir aufgerührt.
Aufstehen.
Der Angst und der Verzweiflung ins Gesicht sehen.
Der Stimme Jesu Vertrauen schenken.
Fürchte dich nicht!
Nach vorn schauen.
Die Trauer überwinden.
Wie einen riesigen Berg, den ich besteigen muß,
um ins Tal dahinter zu gelangen.
Vielleicht ein Lichtblick?
Eine Hoffnung?
Zukunft?

-

Ich trete zum Schreibtisch.
Setze mich.
Öffne die Schublade.
Nehme einen Packen Papier heraus.
Und fange an zu schreiben.
Einfach alles aufzuschreiben.
Die Erinnerungsfetzen.
All den Schmerz.
Die kalte Luft spüre ich nicht.
Im Gegenteil.
Sie macht meinen Kopf frei.

-

Stunden später gehe ich zu Bett.
Bevor ich einschlafe, beschließe ich:
Morgen werde ich zum Gottesdienst gehen.
Und hinterher auf den Friedhof.
Und dann werde ich eins von diesen roten Lichtern
auf das Grab stellen.
Auch wenn ich evangelisch bin.
Denn heute
hat mich ein Lichtblick in dunkler Nacht erreicht.

Amen.